Am 19. November 2024 war es wieder so weit: Insgesamt über 300 Teilnehmende aus der Stahlbranche haben sich zum HÜTTENTAG im Glasfoyer des Congress Centers Ost der Messe Essen zusammengefunden, um sich zu den aktuellen Herausforderungen beim Stahl auszutauschen. Das Motto des HÜTTENTAGs gab die Richtung vor: Energiesicherheit für die grüne Transformation und Potenziale der Künstlichen Intelligenz sind die Themen der Stunde.
Den Auftakt übernahm am Vormittag Kerstin Maria Rippel, Hauptgeschäftsführerin der Wirtschaftsvereinigung Stahl. In ihrem Eröffnungsvortrag setzte sie den Ton für den HÜTTENTAG, indem sie die Bedeutung des Stahls für Deutschland und die EU hervorhob. „Der Stahl trägt zur ökonomischen und gesellschaftlichen Stabilität […] und zur strategischen Autonomie bei“, so Rippel.
Gerade die gesellschaftliche Bedeutung dürfe – neben der Rolle als Markenkern in der Wirtschaft – nicht vernachlässigt werden. Die aktuelle Situation der Branche wird mit einem Blick auf die Zahlen deutlich. 2023 wurden in Deutschland 35,4 Millionen Tonnen Rohstahl erzeugt. 2018 lag dieser Wert noch bei 42,4 Millionen Tonnen. Dieser Stahl findet am Ende der Prozessketten seinen Einsatz in rund 2.500 Stahlprodukten.
Es besteht also Handlungsbedarf und Rippel betonte: „Die Industrie hat sich bereits in der Vergangenheit neu erfunden.“ Die Wirtschaftsvereinigung Stahl nimmt aber auch die Politik in die Pflicht. Es brauche die notwendigen politischen Rahmenbedingungen, zuvorderst wettbewerbsfähige Strompreise und einen wirksamen Schutz beim Außenhandel. Gleichzeitig appellierte Rippel an die Mitgliedsunternehmen: „Gehen Sie in den Austausch mit den politischen Vertretern; Ihnen wird zugehört.“
WV Stahl warnt vor stockendem Wasserstoffhochlauf
Die Transformation hin zu einer klimafreundlicheren Stahlproduktion ist noch immer das prägendste Thema. Rund ein Drittel der CO2-Emissionen der Industrie sind auf die Stahlbranche zurückzuführen. „Da müssen wir ran!“, so Rippel. Wasserstoff ist einer der zukunftsträchtigsten Energieträger; für 2030 beziffert die Wirtschaftsvereinigung Stahl den Anteil des Stahls am gesamten Wasserstoffbedarf in Deutschland mit 30 %.
Es gibt bereits zahlreiche Elektrolyseurprojekte, doch ein beruhigendes Signal ist das nicht. „Es liegen lediglich für 3 % dieser Projekte die Final Investment Decisions vor – der Wasserstoffhochlauf stockt und bezahlbare Preise sind nicht zu erkennen“, warnt die Hauptgeschäftsführerin. Aber bis es so weit sei, können bei der Stahlherstellung durch den Umstieg vom Kokshochofen auf Direktreduktion mit Erdgas als Zwischenlösung schon etwa 60 % der CO2-Emissionen vermieden werden.
Für den Umbau der Industrie macht die Wirtschaftsvereinigung Stahl konkrete Lösungsvorschläge: Strompreiskompensation und Stromsteuersenkungen müssen stabilisiert werden. Gleichzeitig gilt es eine öffentliche Finanzierung der Netze als Aufgabe der Daseinsvorsorge zu begreifen. Des Weiteren muss die Industrie bei Kooperation mit den Energieversorgern – konkret bei Abschlüssen von Power Purchase Agreements – unterstützt werden.
Forderung nach einer neuen EU-Handelspolitik
Doch auch das fortschrittlichste Stahlprodukt muss seine Abnehmer finden. Hier kommt der Handel ins Spiel. International steht der EU-Markt verstärkt unter Importdruck. Rippel verweist auf den noch unzureichenden Schutz und vergleicht: „In der Vergangenheit war die Situation in den USA unter Präsident Ronald Reagan eine ähnliche.“ Die tiefgreifenden Auswirkungen im Rust Belt würden zum Handeln in der Gegenwart mahnen.
Dies bedeutet, dass die EU-Handelspolitik neu gedacht werden müsse. Dazu soll unter anderem auch LESS – der neue internationale Low Emission Steel Standard beitragen, für den ein eigenständiger Verein in Brüssel zuständig sein wird. So soll die Stimme der Branche in Europa verstärkt Gehör finden.
Zu den Erfolgsfaktoren für die grüne Transformation beim Stahl zählt zweifellos die Einführung klimafreundlicher Technologien. In seiner Keynote beschrieb Till Schreiter, Vorstandsvorsitzender des VDMA Metallurgy und CEO der ABP Induction Systems GmbH die Position des metallurgischen Maschinen- und Anlagebaus im Spannungsfeld von Transformationsanforderungen, globalen Marktentwicklungen und technologischen Lösungsansätzen.
VDMA Metallurgy sieht Handelshemmnisse kritisch
Ausgehend von den sich derzeit abzeichnenden Entwicklungen der internationalen Wirtschaftsräume sowie des Energiemarktes einschließlich Wasserstoffwirtschaft beleuchtete der Vortrag die zur Verfügung stehenden technologischen Entwicklungslinien insbesondere im Bereich der industriellen Prozesswärme für die Metallerzeugung und -verarbeitung.
Er betonte: „Als exportorientierte Unternehmen brauchen wir einen freien, globalen Markt, der vom Technologiewettbewerb lebt. Handelshemmnissen können wir überhaupt nicht unterstützen“, so Till Schreiter. Die Transformation sieht er als große Chance: „Beispielsweise Lifecycle-Produkte müssen künftig ‚grün‘ sein. Das kurbelt die Nachfrage nach umweltfreundlich produzierten Metallen an, wofür unsere fortschrittlichen Technologien gebraucht werden.“
Für Deutschland seien die hohen Energiepreise wohl auf absehbare Zeit ein Problem, selbst wenn erneuerbare Energien langfristig günstiger werden. „Unsere Energiepreise sind hoch, weil wir hierzulande bestimmte Energien nicht haben, die in anderen Ländern günstig zur Verfügung stehen.“ Auch würden sich die Gaspreise in Europa nicht auf das Niveau von vor der Energiekrise erholen, so seine Prognose.
Zur künftigen Versorgung mit Wasserstoff betonte Till Schreiter: „Der Kampf der Grundstoffindustrien um Wasserstoff ist in vollem Gange. […] Wir müssen ehrlich sein und hinterfragen, welche dieser Industrien in Deutschland eine grüne Zukunft haben und dafür die Wasserstoffversorgung aufbauen.“ Ein Kernthema sei dabei die Elektrifizierung der Prozesse. „Wasserstoff zu verbrennen, ist keine Lösung.“ Außerdem führe kein Weg an der Digitalisierung vorbei, die ein wichtiger Hebel sei, um künftig erfolgreich zu sein.
Konkrete Anwendungen rücken in den Fokus
Der HÜTTENTAG legt seit jeher den Fokus auf konkrete Anwendungen für Industrie. Teilnehmende Entscheider erhalten so die Möglichkeit, sich zu informieren; ein Mehrwert für Unternehmen und Besucher ist das Ziel.
Jens te Kaat, Geschäftsführer bei Kueppers Solutions, zeigte in seinem Vortrag eine solche Anwendung in der Brennertechnik. Das Unternehmen hat einen im 3D-Druck hergestellten Wärmetauscher (Rekuperator) für Industrieofenbrenner entwickelt, dessen Kern-Aggregat, der den Wirkungsgrad des Brenners erheblich verbessert.
Außerdem ist dieser neue Brenner für den Mehrstoffbetrieb mit unterschiedlichen Brenngasen ausgelegt. Der Brenner kann mit Erdgas oder Wasserstoff oder einem beliebigen Mischungsverhältnis dieser Gase betrieben werden. Dabei bleibt die Flammentemperatur stabil. Vor dem Hintergrund der noch ausstehenden, ausreichenden Verfügbarkeit von Wasserstoff ein relevanter Aspekt.
ArcelorMittal plädiert für Technologieoffenheit
Dr. Thomas Bünger, CEO ArcelorMittal Flachstahl Deutschland, erläuterte in seiner Keynote, dass die Dekarbonisierung der Stahlherstellung zunächst technologieoffen betrachtet werde sollte.
Grundsätzlich führen mehrere Wege zum Ziel, dazu zählen vermehrter Schrotteinsatz in den Prozessen, CO2-Abscheidung und -nutzung (CCSU), das Vorantreiben von Zukunftstechnologien wie direkte Elektrolyse und eine kluge Einführung der DRI-EAF-Technologie mit Erdgas und Wasserstoff.
„Man kann durchaus die klassische Hochofenroute dekarbonisieren. Man muss nicht hochproduktive Anlagen abreißen und eine neue Industrie aufbauen“, so Bünger.
Auch er beklagte die Tabuisierung bestimmter Technologien in Deutschland. Da CCSU-Prozesse und deren Entwicklung in Deutschland nicht als nichtfossil eingestuft werden, habe ArcelorMittal das Steelanol-Projekt, bei dem CO2 aus Abgasen abgetrennt und daraus Industrieethanol hergestellt wird, in Belgien realisiert.
Neben wettbewerbsfähigen Energiepreise und einem effektiver Handelsschutz in Europa sei die zügige Etablierung grüner Leitmärkte ein weiterer Kernbaustein auf dem Weg der Transformation.
Nadine Pungs moderierte eine lebhafte Podiumsdiskussion
Im Anschluss folgte die Podiumsdiskussion, in der sich die Teilnehmer über die Themen der Keynotes lebhaft austauschten. Zunächst wurde es politisch, denn: Die Bundespolitik muss sich neu finden; mit Blick auf die Bundestagswahl 2025 betonte Kerstin Maria Rippel, dass die kommende Bundesregierung die Themen pragmatisch umsetzen müsse.
Es gelte, sich in Bezug zu anderen Ländern ehrlich zu machen. „Europa muss sein Verhältnis zu China klären“, fordert Rippel. Jens te Kaat führt die unternehmermische Bedeutung für die Transformation an. „Es braucht mehr unternehmerischen Mut“, so der Geschäftsführer von Kueppers Solutions.
Till Schreiter fügt hinzu, dass die unternehmerischen Risiken nicht unterschätzt werden dürfen; er bezieht sich auf die Gießereibranche. So hätten, laut Schreiter, die dort agierenden Unternehmen oft nur einmalig die Chance, eine Investitionsentscheidung zu treffen. Sollte eine Amortisierung ausbleiben, riskiere das Unternehmen eine Insolvenz.
Fachvortragsprogramm, Ausstellung und HÜTTENABEND
Wie die gesamte Stahlbranche, so ist auch der HÜTTENTAG als Veranstaltung gefordert, sich stetig weiterzuentwickeln. Dieses Jahr wurde eine weiterer, dritter Vortragszug am Nachmittag ins Programm aufgenommen. Insgesamt fanden 27 Fachvorträge in drei parallel organisierten Zügen statt. Die Sessions waren in folgende Themenbereiche gegliedert:
- Werkstoffe und intelligente Stoffkreisläufe
- Wasserstoff, Energie und Infrastruktur
- Künstliche Intelligenz für die Stahlbranche
- Künstliche Intelligenz in Messtechnik und der Automation
- Transformation der Stahl-Prozesskette
- Arbeitssicherheit und Logistik in der Stahlbranche
Ergänzt wurde der HÜTTENTAG 2024 mit einer Fachexpo, an der sich 26 Unternehmen als Aussteller und Sponsoren beteiligten. Hier wurden nicht nur Produkte präsentiert, sondern ausführlich mit den Teilnehmern über konkrete Lösungen für die Aufgaben in den Unternehmen diskutiert.
Frische Ideen von jungen Talenten geben Impulse
Die Transformation hat auch eine soziale Komponente. Dies bedeutet, dass erfahrene Mitarbeiter für neue Technologien begeistert werden müssen, während frische Ideen von Berufseinsteigern sinnvoll unterstützen.
Adrian Plieth, Student der Materialwissenschaften an der RWTH Aachen, appellierte stellvertretend für weitere anwesende Studierende, das Gespräch mit dem Nachwuchs zu suchen. Er selbst ist ein gutes Beispiel für einen gewinnbringenden Austausch. Aktuell engagiert er sich im Rahmen seiner Masterarbeit bei einem Stahlunternehmen. Die Möglichkeit dazu hatte sich ihm beim HÜTTENTAG 2023 eröffnet.
Der HÜTTENTAG steht unter der Schirmherrschaft des Oberbürgermeisters der Stadt Essen, Thomas Kufen. In seinem diesjährigen Grußwort nimmt er Bezug auf das Ruhrgebiet mit seinen Bergleuten, die viele Jahrzehnte die Region geprägt haben und noch immer prägen. Ein oft zitiertes Sprichwort aus dem Schacht: „Vor der Hacke ist es immer duster.“
Die gelte heute mehr denn je, also: Was die Zukunft bringt, ist ungewiss. Aber der HÜTTENTAG ist ein positives Beispiel, das zeigt, wie man Veränderungen auch als Chance begreifen kann. „Der Stahl ist bereit, diesen Wandel zu gestalten, damit er auch weiterhin in diesem Land eine Zukunft hat“, so Thomas Kufen.
Im Anschluss gab es wieder viel Raum und Zeit zum Networking in entspannter Atmosphäre – mit auserlesener Bewirtung und guter Musik bis in die späten Abendstunden.
Der HÜTTENTAG 2025 findet am 13. November an gleicher Stelle statt. Veranstaltet wird der Branchentreff von der DVS Media GmbH in Kooperation mit der Messe Essen.
Redaktion STAHL + TECHNIK
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