Die SMS group hat die digitale Transformation zu einer Säule ihrer Unternehmensstrategie erhoben und setzt den Wandel in Produkt- und Serviceportfolio, Unternehmensstruktur und -kultur konsequent fort. STAHL+TECHNIK hatte die Gelegenheit, hinter die Kulissen eines Digitalunternehmens mit einem ganz besonderen Hintergrund zu blicken: Als Tochterfirma der SMS group entwickelt die SMS digital GmbH innovative Produkte und Services, mit denen sie die Metallindustrie „digitalisiert“. Wir sprachen mit den beiden Geschäftsführern Bernhard Steenken und Dr. Markus Reifferscheid, der zugleich Bereichsleiter der Technischen Entwicklung bei der SMS group ist.
Gibt es eine Digitalisierungs-Strategie der SMS group?
Markus Reifferscheid: Eine Strategie – frei nach Carl Philipp von Clausewitz „Strategie ist die Ökonomie der Kräfte“ – ist für ein Unternehmen unserer Größe unverzichtbar, da diese über Vision und Mission den Rahmen für die Digitalisierungsmaßnahmen definiert und unternehmensweit transparent macht. Wir beschäftigen uns mit beiden Seiten der Digitalisierung. Das heißt zum einen mit dem Blick nach Innen und der Frage wie wir als SMS group durch den Einsatz von digitalen Methoden unsere Prozesse von der Beschaffung bis zur Inbetriebnahme effizienter gestalten und zum anderen mit dem Blick auf die Prozesse unserer Kunden und der Frage inwieweit wir mit digitalen Serviceleistungen Mehrwert bei unseren Kunden schaffen können.
In beiden Fällen gilt: Digitalisierung kann man nicht kaufen, Digitalisierung muss man selbst gestalten. Wir legen großen Wert darauf, nicht nur als Anbieter digitaler Lösungen wahrgenommen zu werden, sondern vielmehr als Innovationspartner, der Kunden auf dem Weg der Digitalisierung berät und begleitet. Unter Einsatz zukunftsweisender Technologien entwickeln wir in enger Zusammenarbeit mit den Kunden maßgeschneiderte und für sie nachhaltig wertstiftende Lösungen.
Das „Lernende Stahlwerk” ist unsere Vision des vernetzten Produktionswerks, um die gesamte Wertschöpfungskette der Kunden zu optimieren. Das erreichen wir durch die Kombination von Engineerings-, Automations- und Prozesswissen mit physikalischen Prozessmodellen und datenbasierten Modellen, die auf modernen KI-Algorithmen aufsetzen. Kurz: Es gilt aus Daten Wert zu schaffen.
Das „Lernende Stahlwerk” ist also ein Kernelement Ihrer digitalen Transformation. Was versteht man darunter?
Wir stehen für das Lernende Stahlwerk, das sich im Zusammenwirken durch die Vernetzung aller beteiligten Menschen und Systeme hinsichtlich seiner wesentlichen Leistungsparameter wie Produktqualität, Durchlaufzeit, Termintreue und Output permanent selbstständig optimiert und steuert.
Dieses Werk bestimmt und evaluiert geeignete Szenarien durch intelligente Mustererkennungsalgorithmen, das heißt es trainiert diese und überwacht sich durch lernende Algorithmen permanent und zieht entsprechende Konsequenzen aus realen Ereignissen.
Um ein optimales Ergebnis entlang der gesamten Produktionskette zu ermöglichen, ist es erforderlich, die Prozesse von der Materiallieferung über die Produktion bis hin zur Distribution modellmäßig abzubilden und die relevanten Maschinen-, Prozess- und Produktdaten vollumfänglich zu beherrschen.
Inwiefern wird diese Vision eines lernenden Stahlwerks heute schon bei Ihren Kunden eingesetzt?
Markus Reifferscheid: Erfolgreiche Umsetzungen Lernender Stahlwerke sind aktuell an zwei Standorten besonders sichtbar: in den USA bei Big River Steel und in China bei der Shandong Iron & Steel Group. Beide Unternehmen stehen exemplarisch dafür, wie sich mit SMS-Lösungen die Wertschöpfungskette vom flüssigen Stahl bis hin zum Fertigprodukt durchgängig digitalisieren lässt. Das sind für uns strategisch bedeutende Leuchtturmprojekte, auf die wir stolz sind. Im Rahmen dieser Partnerschaften können wir uns und unsere Produkte und Services weiterentwickeln und die digitale Transformation unserer Kunden konsequent vorantreiben.
Was können Kunden tun auf ihrem Weg zur Digitalisierung? Wo fängt man an?
Markus Reifferscheid: Dazu gibt es keine generell gültige Antwort, nur die konkrete Analyse liefert die Antwort. Im Fokus der Digitalisierung steht die unmittelbare Wertstiftung. Es geht im ersten Schritt also darum zu erkennen, wo aktuelle Prozesse ausgehend von der Materialbeschaffung, der Materiallogistik, des Ressourceneinsatzes hinsichtlich Material-, Energie-, Personaleinsatz oder Kapitalbindung nicht effizient ablaufen und wie durch den Einsatz von digitalen Methoden diese Prozesse effizienter, das heißt beschleunigt oder kostengünstiger gestaltet werden können. Ein Ansatzpunkt zur Erkennung und Quantifizierung möglicher Potenziale bildet die systematische Datenanalyse unter Einsatz statistischer oder moderner KI-Methoden entlang konkreter Value-Stories. Ist das Problem in den Dateninformationen ausreichend abgebildet und das Wertversprechen für den Anwendungsfall gegeben, kann die Umsetzung beginnen. Interdisziplinäre Teams, bestehend aus Kunden und SMS-Mitarbeitern, arbeiten nach einem agilen Methodenansatz – zum Beispiel Design Thinking – an der Verbesserung, mit dem Ziel nach spätestens drei Monaten eine erste Applikation – das Minimum Viable Product – als Prototyp in die Anwendung zu bringen. In der anschließenden Erprobungsphase wird das Erreichen des Wertversprechens überprüft. Ist das Ziel erreicht oder ist der zusätzlich notwendige Aufwand für eine weitere Verbesserung der Zielerreichung zu hoch, wendet sich das Team einer neuen Aufgabe zu. Andernfalls wird der Innovationszyklus von drei Monaten wiederholt, bis das gewünschte Ergebnis erreicht ist. Neu für unsere Kunden sind neben dieser Vorgehensweise sicherlich auch die innovativen Geschäfts- und Bezahlmodelle. Viele Leistungen bieten wir bereits auf einer Software- oder Value-as-a-Service Basis an. Sonst übliche CapEx-Aufwendungen verlagern sich in das OpEx-Umfeld und die Vergütung erfolgt ganz oder teilweise auf Nutzungsbasis und/oder auf Basis von erreichten Verbesserungen. Dieses Modell kommt im Markt hervorragend an.
Wie funktioniert diese Software oder Value-as-a-Service denn aus Anwendersicht?
Bernhard Steenken: SaaS und VaaS nutzen die Methoden des Cloud Computings. Die Software und die IT-Infrastruktur werden bei einem externen Servicedienstleister betrieben und vom Kunden als Dienstleistung genutzt. Konkret gesagt liefert der Kunde über einen verschlüsselten Kanal Daten in einen ausschließlich für ihn reservierten Datenraum nur für den vorher festgelegten Zweck. Dabei werden alle Daten, die weiterhin in Kundenbesitz bleiben, in der Cloud in hochsicheren Rechenzentren gehostet. Für die Datenanalyse und Rückführung der wertstiftenden Information oder Serviceleitung wird der SaaS- beziehungsweise VaaS-Anbieter vergütet. Mit „mySMS-group” betreibt die SMS digital eine erfolgreiche Industrial-Internet-of-Things-Plattform für die Stahl- und NE-Metallindustrie. Kunden können sich mit dieser IIOT-Plattform mit erprobten Apps verbinden und diese innerhalb kürzester Zeit nutzen. Die Implementierung von SaaS- beziehungsweise VaaS-Lösungen ist unkompliziert, schnell und kostengünstig. Unser Team spürt, wie die Nachfrage nach diesen Servicemodellen Monat um Monat zunimmt.
Wofür steht die SMS digital?
Bernhard Steenken: SMS digital steht für die Kernelemente unserer Digitalisierungsstrategie: SMS digital ist sowohl der Name unseres schnell wachsenden Geschäftsbereichs als auch die Dachmarke für sämtliche digitalen Produkte und Dienstleistungen, die die SMS group über die gesamte Prozesskette hinweg anbietet. Und zu guter Letzt bündelt das Softwareunternehmen SMS digital GmbH die entsprechenden Kompetenzen weltweit. Wie bei einem One-Stop-Shop findet der Kunde hier operative Expertise für jedes seiner Digitalisierungsprojekte, Kompetenz in der Datenanalyse und -entwicklung, und über unsere Plattform my.sms-group.com das bereits genannte Portfolio von digitalen Produkten und Apps.
Wenn Sie bereits einen eigenen Geschäftsbereich für Digitales haben, wieso bauen Sie parallel die Tochtergesellschaft SMS digital GmbH weiter aus?
Markus Reifferscheid: Das lässt sich einfach beantworten. Die Gründung der SMS digital GmbH vor einigen Jahren war ein Beleg unserer Position, dass der rasant wachsende Bedarf an digitalen Lösungen schneller außerhalb klassischer Unternehmensstrukturen realisiert werden kann. Diese Entscheidung hat sich ausgezahlt, denn so konnte diese junge Truppe eigene digitale Produkte unabhängig entwickeln und zeitgleich erfolgreich an Dutzenden Kundenprojekten der SMS group mitwirken. Diese Logik gilt weiterhin.
Als Softwareunternehmen braucht die SMS digital GmbH Spitzentalente in Kompetenzfeldern, die sich vom traditionellen Engineering des Maschinen- und Anlagenbaus differenzieren. Diese Mitarbeiter präferieren das Arbeiten nach einem Start-up-ähnlichen Vorgehen mit agilen Methoden. Der Austausch zwischen den beiden Unternehmungen ist heute intensiver denn je. Die Kombination von Digital-, Prozess-, Service- und Automationsexperten ist ideal, um Entwicklungssynergien optimal für uns zu nutzen. Außerdem bieten wir mit der SMS digital GmbH umfassende Beratungsdienstleistungen an und können Stahl-, Prozess- und Herstellungsexpertise mit digitalen State-of-the- art-Technologien verbinden.
Was hat SMS digital bereits erreicht?
Bernhard Steenken: Heute verwenden bereits mehr als 2.000 Nutzer die digitalen Anwendungen der „my.sms-group”-Plattform. Die SMS digital hat zudem bereits über 100 Kunden in 50 Ländern erreicht, und mehr als 30 Partnerschaften gebildet. Das bestätigt uns in unserem Handeln.
Das klingt nach schnellem Wachstum. Wie haben Sie das Team dafür aufgestellt?
Bernhard Steenken: Ganz klar: Wir werden bis zum Jahresende noch zahlreiche neue Teammitglieder einstellen. Das SMS- digital-Team setzt auf eine Mischung aus erfahrenen SMS-Spezialisten mit Kompetenzen rund um Produkte, Prozesse, Automation und Projektabwicklung sowie aus jungen und erfahrenen neuen Mitarbeitern, die Expertise aus den digitalen Kompetenzfeldern wie Softwareentwicklung, Digitale Plattformen und KI-Methoden mitbringen. Sie alle eint ihre Begeisterung für das Thema und ihre Motivation, die digitale Transformation der SMS group zu einer Erfolgsstory zu machen. Die SMS digital besteht derzeit aus über 60 Mitarbeitern – allen voran in Deutschland und den USA. Bis zum Jahresende wird die Gesamtmitarbeiterzahl auf über 100 anwachsen. Dass wir innerhalb kurzer Zeit so viele auf dem Arbeitsmarkt hart umkämpfte Spezialisten finden konnten, freut uns sehr.
Haben sich dafür Arbeitsweisen geändert? Wie arbeiten Sie bei der SMS digital?
Bernhard Steenken: Bei der SMS digital arbeiten wir eng mit unseren Kunden zusammen. Unsere interdisziplinären Teams bestehen aus Experten, die sich flexibel zusammenstellen lassen, agil arbeiten und gemeinsam mit dem Kunden vor Ort nutzerzentrierte Softwarelösungen entwickeln. Der Kunde ist also von Anfang an dabei und kann uns in jeder Phase der Entwicklung Feedback geben. So können wir Kundenwünsche genau verstehen und umsetzen. Der Kunde kann die Vorgehensweise und das Ergebnis auf diese Weise agil mitgestalten. Damit uns das stets optimal gelingt, setzen wir auch sogenannte „Agile Coaches“ ein. Diese Art zu arbeiten spart uns lange Wege und Absprachen sowohl im Team als auch mit dem Kunden.
Und wie treiben Sie die Digitalisierung auch im eigenen Unternehmen, also bei internen Projekten voran?
Markus Reifferscheid: Wir begreifen uns als eine „Lernende Organisationseinheit”, in der Entscheidungen zu Prozessabläufen besser mit der Unterstützung durch datenbasierte Modelle getroffen werden oder durch den Einsatz von digitalen Methoden und Werkzeugen effizienter ablaufen. Es ist wichtig, dass die relevanten Informationen transparent und im Zugriff für alle Entscheidungsträger in Echtzeit verfügbar sind. Alle unserer Bereiche und unser globales Netzwerk arbeiten kontinuierlich an der Harmonisierung und nahtlosen Integration von Prozessen. Diese gelten als Basis für alle Digitalisierungsinitiativen und lassen eine proaktive Steuerung unseres Geschäfts zur Routine werden. Dazu benötigen wir direkten Zugriff auf alle relevanten Informationen, egal ob intern – zum Beispiel in Logistik, Fertigung, Vertrieb oder Einkauf – oder extern, zum Beispiel aufseiten der Zulieferer, Logistikdienstleister oder Ingenieurbüros. Um die interne Digitalisierung voranzutreiben, bedarf es einer zukunftsfähigen Infrastruktur, die es erlaubt, Millionen von Daten aus diversen Systemen unterschiedlichster Ausprägung zu verarbeiten. Dabei müssen die individuellen Interessen und Bedürfnisse der verschiedenen Bereiche berücksichtigt werden. Eine Riesenaufgabe, für die wir aber gut aufgestellt sind.
Wagen Sie einen Ausblick in die Zukunft? Wie viel Weg liegt noch vor Ihnen?
Markus Reifferscheid: SMS steht für den „Leading partner in the world of metals“, und seit fast 150 Jahren stehen wir für Produkte, Services und Innovation, die unsere Kunden immer aufs Neue erfolgreich in ihrem Zielmarkt machen. Vor diesem Hintergrund gilt es, unsere Marktführerschaft auszubauen, indem wir unseren Kunden höchste technologische Standards zu wirtschaftlich attraktiven Preisen anbieten.
Bernhard Steenken: Und Daten sind hierfür ein zentraler Schlüssel zum Erfolg. Allein der Begriff „Lernendes Stahlwerk“ zeigt, dass wir ein anspruchsvolles Zielbild verfolgen, das nicht mit einer festen Zahl ausgedrückt werden kann. Somit ist die Wegstrecke auch nicht in einer Prozentzahl zu fassen. Aber genau das ist es, was diese Aufgabe so spannend macht – egal ob man Software- oder Automationsspezialist, Maschinen-, Anlagenbauer oder Serviceanbieter ist!
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Arnt Hannewald
Der Beitrag ist erschienen in der Ausgabe STAHL + TECHNIK 1 (2019) Nr. 6/7, S. 117 ff.